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Lena Kraus: „Bella“

„Ramona, wir müssen los!“, hörte ich meine Mutter von unten rufen. Ich griff nach meiner knallroten Handtasche, die mein ständiger Begleiter und dadurch leider auch schon ziemlich abgenutzt war, warf mein Handy und eine Packung Kaugummi hinein und rannte die Treppe hinunter. Weil ich so aufgewühlt war,stolperte ich einmal und sah mein Leben schon an mir vorbeiziehen, als ich im letzten Moment noch mit meiner Hand nach dem Geländer griff und mich dort festhalten konnte.„Da bist du ja endlich“, sagte meine Mutter stirnrunzelnd, als ich atemlos vor ihr zum Stehen kam. „Hoffentlich ist kein Stau, sonst kommen wir zu spät.“ Sie warf einen Blick auf ihre teure Armbanduhr und zeigte mir mit einem Kopfnicken, dass wir uns jetzt lieber beeilen sollten. Also verließen wir schnell das Haus und setzten uns ohne ein weiteres Wort ins Auto. Ich war unheimlich aufgeregt, denn heute war es endlich so weit: wir würden einen Hund bekommen!
Seit mein Vater meine Mutter vor sechs Jahren verlassen und seitdem auch zu mir leider nie wieder Kontakt aufgenommen hat, waren wir immer ziemlich einsam und wussten in unserer Freizeit nicht wirklich, wie wir uns sinnvoll beschäftigen sollten. Zum Spazieren gehen ohne Shoppingtüte waren weder meine Mutter noch ich zu begeistern. Deshalb schlug meine Mutter vor ein paar Monaten vor, einen jungen Hund aus dem Tierasyl zu adoptieren. Damit würden wir uns dann auch dazu verpflichten, regelmäßig raus in die Natur zu gehen. Ich war natürlich sofort Feuer und Flamme dafür; ich hatte mir schon immer ein Haustier gewünscht und war auch jetzt, mit fast fünfzehn, alt genug,um mich gut um einen Hund zu kümmern. Nachdem meine Mutter mehrmals mit Leuten aus dem Tierheim telefoniert und alles sorgfältig organisiert hatte,hatten sie und eine Mitarbeiterin einen Termin ausgemacht, an dem wir zum Tierasyl fahren würden, um uns einen Hund auszusuchen, den wir sofort mit nach Hause nehmen durften.Ich hatte die Tage gezählt. Zweiundsiebzig Tage ganz genau wartete ich jetzt schon auf einen süßen Hund, den ich heute endlich adoptieren durfte. Ich zitterte vor Aufregung so stark, dass ich die Zahlen auf meiner Armbanduhr nicht lesen konnte und meine Mutter alle fünf Minuten nach der Uhrzeit fragte,um zu wissen, ob wir bald ankommen würden.Die Fahrt dauerte gefühlt unendlich lang. Da es in unserem langweiligen,kleinen Kaff kein Tierheim gab, mussten wir nach Prüm fahren, und obwohl die Distanz nicht besonders groß war, kam mir die Fahrt wie eine kleine Ewigkeit vor. Meine Mutter und ich waren beide die Sorte Mensch, die eher ruhig werden, wenn sie aufgeregt sind, und so schwiegen wir fast die ganze Fahrt lang.Das Radio lief leise im Hintergrund und weil ich nicht wusste, wie ich mich von meiner Nervosität ablenken sollte, schrieb ich ungefähr fünfzig Nachrichten an meine beste Freundin, bis sie endlich online kam und wir ein wenig miteinander schrieben.
Außerdem standen wir fast fünfundzwanzig Minuten im Stau, weil ein betrunkener Autofahrer in einen Baum gefahren war und mit Blaulicht ins Krankenhaus gebracht werden musste.Nach knapp vierzig Minuten waren wir endlich da. Meine Mutter und ich stiegen aus dem Auto und ich ließ meinen Blick über das Gebäude wandern.Durch die strahlende Sonne sah die dunkelrote Fassade heller aus, als sie eigentlich war. Aufgeregt hielten meine Mutter und ich uns an den Händen und betraten das Tierheim.Sofort als wir eintraten kam uns eine kleine, lächelnde Frau entgegen. Sie hatte hellgraues, lockiges Haar und sah mit den kleinen Lachfalten um ihre Augen sehr sympathisch aus. „Hallo! Wie kann ich euch helfen?“ Während meine Mutter ihr erklärte, dass wir einen Termin hatten, sah ich mich ein wenig um. An den grauen Wänden hingen Plakate, die zu Spenden aufforderten und teilweise schon verblasst waren. Obwohl die Käfige der Junghunde am anderen Ende des Flurs waren - wie ich auf der Online-Seite vom Tierheim gesehen hatte -, hörte ich jetzt schon Hundegebell, das an den Wänden widerhallte.„Schatz, kommst du?“ Meine Mutter zupfte an meinem Pulloverärmel und ich merkte, dass die ältere Frau, die sich als Maria vorgestellt hatte, bereits zu den Käfigen ging. „Oh! Ja, natürlich“, antwortete ich und beschleunigte meinen Schritt. Maria stieß eine Tür am Ende des Flurs auf, durch die wir in einen anderen Flur mit mehreren Türen und Käfigen gelangten. Das Gebell wurde lauter und während meine Mutter und ich uns in aller Ruhe die Hunde ansahen, stand Maria geduldig daneben und nannte uns freundlich die Namen jeden Hundes.„Welcher Hund gefällt dir denn am besten, Ramona?“, fragte meine Mutter mich lächelnd. Ich ließ den Blick nochmal über alle Käfige wandern. Am liebsten hätte ich alle mitgenommen, einfach wegen dem süßen Hundeblick, mit dem die meisten uns ansahen, aber ich wusste natürlich, dass das keine Option war. Deshalb entschied ich mich für einen mittelgroßen, rotbraunen Hund mit großen Kulleraugen, der mich schüchtern, ja fast ängstlich ansah, doch an seinem Schwanzwedeln erkannte ich, dass er eigentlich sehr neugierig und fröhlich war.
„Den hier finde ich perfekt!“ Meine Mutter musterte den rotbraunen Hund, der durch die gesteigerte Aufmerksamkeit ein wenig nervös wurde und sich von uns wegdrehte. Maria lächelte zustimmend und fing an, uns ein wenig von dem Hund zu erzählen.

„Das ist ein Cocker Spaniel. Sie heißt Bella und ist ein wenig schüchtern, aber wenn sie Leute näher kennenlernt, ist sie ziemlich zutraulich und perfekt zum Kuscheln geeignet. Ich bin überzeugt davon, dass Bella in euren Mädchenhaushalt gut passen würde.“ Meine Mutter schmunzelte. Ich streckte die Hand durch den Käfig zu Bella, doch sie zog sich in eine Ecke zurück und sah mich misstrauisch an.
„Ja, sie ist wirklich sehr vorsichtig, aber das liegt auch an ihrer schlimmen Vergangenheit. Meine jüngere Schwester hat sie letztes Jahr in Spanien am Straßenrand aufgegabelt und sie zu uns gebracht. Wir vermuten, dass Bella monatelang misshandelt und dann ausgesetzt wurde, denn sie hatte zahlreiche Verletzungen und war stark untergewichtig. Es hat ganz schön lange gedauert,bis sie Vertrauen zu uns gewonnen hatte! Jetzt wartet sie auf einen Neuanfang bei einer liebevollen Familie, aber durch ihre Schüchternheit weisen die meisten Interessenten sie zurück.“ Maria seufzte. „Ich würde Bella auch schrecklich gerne selbst adoptieren, aber ich habe bereits zwei Hunde und mein Mann beschwert sich nahezu jeden Tag über die ganzen Fellhaare, die bei uns herumfliegen.“ Wir lachten. Dann erklärte Maria noch, dass Bella ungefähr zwei Jahre alt sei,am liebsten Trockenfutter mit Rindfleischgeschmack esse und gut mit anderen Hunden auskäme - außer mit Chihuahuas, weil sie einmal aus Versehen auf einen getreten sei und einen Biss in die Pfote abbekommen habe. Sowohl meine Mutter als auch ich hörten interessiert zu, und ich merkte deutlich, wie sehr Maria sich Mühe gab, uns Bella als „den perfekten Hund“ darzustellen, obwohl für mich sowieso schon längst feststand, dass Bella das richtige neue Familienmitglied für uns war.„Wir nehmen sie“, unterbrach meine Mutter irgendwann den Redeschwall von Maria und lächelte Bella liebevoll an. Und so traten wir eine Dreiviertelstunde später glücklich die Heimfahrt mit einem dritten Familienmitglied an.

Begründung der Jury: Der Jury hat an deiner Geschichte besonders gefallen, wie liebevoll und sprachlich rund sie erzählt ist.  Außerdem hast du einen schönen Spannungsbogen aufgebaut und über die ganze Geschichte durchgehalten.

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